Zitat geschrieben von Gerd Miller
Eine gleichzeitige Veröffentlichung ist auch nicht ausgeschlossen, wenn es sich beispielsweise um zwei unterschiedliche Presswerke handelt.
Gerd
Gerd
Moin Gerd, da möchte ich gleich gern mal in deine Kerbe hauen.
Ich gehöre ja auch zu den Sammlern, die gern Klarheit und Übersichtlichkeit in ihren Sammlungen haben. Dazu gehört auch die korrekte Zuordnung von Lochcovern, Etiketten-Varianten, Erstpressungen und Nachauflagen.
Als ich vor 15 Jahren das erste Mal in einem Archiv einer Plattenfirma recherchieren durfte, musste ich lernen, von diesen Bedürfnissen Abschied zu nehmen. Mit Logik ist vielen Fragen nicht beizukommen. Jedenfalls mit "unserer" Plattensammler-Logik.... Analogieschlüsse führen meistens in die Irre.
Ich habe es seitdem immer wieder erlebt, dass Menschen, die tagtäglich mit Schallplatten- (und heute CD-)Veröffentlichungen zu tun haben und hatten, sich völlig verwundert die Augen reiben, womit sich Plattensammler ihren Kopf zerbrechen. Und habe immer wieder die Sätze gehört: "Da gibt es keinen Grund für" oder "Das ist nicht so, wie Sie sich das denken."
Für die Zeit, mit der wir uns beschäftigen - 50er und 60er Jahre - gilt das im Besonderen, da damals die technischen Möglichkeiten innerhalb des Herstellungsprozesses gänzlich andere waren als heutzutage.
Zwei Gründe im Alltagsgeschäft der damaligen Tonträgerherstellung standen einer Übersichtlichkeit, die wir uns wünschen, fundamental entgegen:
1. Schallplattenproduktion war schon immer in erster Linie ein Geschäft. Da wird Geld verdient. Und da wird nichts weggeschmissen. Wenn irgendwo noch ein Karton mit "alten" Labeletiketten oder FLC gefunden wurde, dann wurde er aufgebraucht und nicht weggeschmissen, auch wenn inzwischen schon längst durchgängig ein neues Design etabliert wurde. Der Vergleich zweier Ausgaben - welches ist die ältere? - ist deshalb mitunter nicht möglich, weil beide parallel im Umlauf waren. Platten wurden in verschiedenen FLC verkauft. Parallel. Oder es wurden zwei Bildcover hergestellt. Beides Erstpressungen. und und und
2. Zum Geschäft gehört auch der sorgsame Umgang mit Ressourcen. D.h. Neben dem eigenen Presswerk und der Hausdruckerei wurden oft Lieferengpässe durch Fremdvergabe von Aufträgen aufgefangen. Jede andere Maschine kann zu Abweichungen führen. Die Druckplatten für Cover und Etiketten hielten im Schnitt für etwa 30000 Drucke. Auch mal 50000. Aber dann musste neu gesetzt werden. Mit Bleisatz. Manuell. Kein Satz war 1:1 identisch mit dem anderen.
Da ich besonders intensiv bei der EMI recherchiert habe, gebe ich mal vier Beispiele:
- Ich habe etwa 30 Erstpressungen der Beatles-LP HELP im Regal, die sich im Satz der Labeletiketten unterscheiden: Schreibfehler, Lettergröße, Groß- und Kleinschreibung oder grafische Anordung differieren. Warum? Die LP hatte hohe Vorbestellzahlen, die Master kamen aber sehr spät aus England und es musste in Köln Tag und Nacht produziert werden, um den Erstverkaufstermin einigermaßen halten zu können. Also Fremdvergabe. Jede Druckerei bekam eine Vorlage und setzte die Bleiletter selber. Und da hat dann in der Nachtschicht mal ein Setzer nicht so genau auf die Vorlage geschaut. Alle meine 30 Varianten sind Erstpressungen. Und waren parallel im Umlauf.
- Im Frühsommer 1961 wurde bei der EMI die Singleproduktion umgestellt. Das Labeletikett wurde kleiner und um das Etikett herum gab es einen geriffelten Ring. Es wurde also nicht nur ein neues Design für die Etiketten eingeführt, sondern es wurden auch die Pressmaschinen umgerüstet. Das ist schon ein ungewöhnlicher Einschnitt. Dennoch kann man nicht sagen, bis Nummer 21xxx gab es die alte Platte ohne Riffelring und ab Nummer 21xxx + 1 gab es die neue Platte mit Riffelring. Die letzte Nummer, die ich in alter Ausführung in meiner Sammlung habe, ist die 21 804 (Babysitter-Boogie). davor gab es ca. 70 Nummern, von denen ich Platten in beiden Ausführungen kenne. Und da sind einige No-Names darunter, von denen man keine späteren Nachpressungen vermuten muss. Diese 70 Nummern verteilen sich auf die Monate März bis Mai 1961, so dass man in diesem Falle korrekterweise nur sagen kann "im Frühsommer 1961" wurde umgestellt, und nicht "ab Bestellnummer Sowieso" wurde umgestellt. Wahrscheinliche Ursache: Die Maschinen wurden nicht am Tag X umgerüstet, sondern nach und nach, und die letzte hat die noch vorhandenen alten Labeletiketten aufgebraucht.
Parallel dazu wurden auch die FLC verändert. Die grünen FLC gibt es in verschiedenen Variationen wie Sand am Meer. Und es gibt sie mit zwei Größen des Mittellochs. Das kleinere Loch ist garantiert nach Sommer 1961 hergestellt worden. Ich habe aber auch FLC mit großem Loch und handschriftlicher Nummer des Plattenhändlers vom Ende 1961. Da wurden Restbestände aufgebraucht.
- Aufgrund einer Änderung des Urhebergesetzes, die am 1.1.1966 in Kraft trat, musste in den Copyright-Text, der rund am Rand des Labeletiketts abgedruckt wurde, der Zusatz "(außer zum persönlichen Gebrauch)" eingefügt werden. Singles mit diesem Zusatz sind also garantiert 1966 oder später gepresst worden. Es gibt aber auch Beispiele, dass Singles erst im Frühjahr oder Sommer 1966 veröffentlicht wurden, und es fehlt dieser Zusatz trotzdem (Beatles - Paperback writer - Juni 1966). Da wurden Restbestände verarbeitet. In rauen Mengen. Gesetz hin Gesetz her. Ein sparsamer Kaufmann wirft nix weg.
- nochmal die Beatles: 1969 wurde das blaue Odeon-Label eingeführt und 1972 wurde das Bestellnummer-System auf die 1C 006-Serie umgestellt. Im Laufe der Jahre sind hunderte von Beatles-Platten durch meine Hände gegangen und jede LP, die mit häßlichem woc a la "zum Geburtstag von Oma am 3.7.1972 bekommen" verziert waren, habe ich beiseite gestellt. Als Nachweis, dass es diese spezielle Pressung zu diesem Datum gab. In vielen Discographien taucht dann unisono für alle LPs auf: 1C 006 erschien 1972... Falscher Analogieschluß! Viele, aber nicht alle. Es gab keinen Stichtag X, an dem die Platten nur noch mit neuer Bestellnummer ausgeliefert wurden. Nein, es wurden die Platten mit "alter" Bestelllnummer so lange verkauft, bis sie alle waren. Und erst dann wurde eine neue Auflage gepresst. Das kann im Einzellfall ein oder zwei Jahre später gewesen sein. Gute zwei Jahre standen beide Bestellnummern in den Händlerkatalogen. Und der Händler bekam das, was im Lager stand.
Diese Analogieschlüsse führten dazu, dass so manche Beatles-Ausgabe auf nahezu jeder Suchliste auftaucht. Und es hat sie definitiv nicht gegeben...
Diese Beispiele sind Einzelfälle, Ausnahmen und beziehen sich nur auf die EMI !!!
Kann bei jeder Platte und bei jeder Plattenfirma anders sein...
Jetzt könnte ich das Thema noch ausweiten und nachfragen, warum in den meisten Beatles-Büchern ErstverkaufsTAGE angegeben sind, wo es aufgrund der Lieferlogistik in den Sechzigern nur ErstverkaufssWOCHEN gegeben hat. Da findet sich dann ganz akribisch manches VÖ-Datum für Deutschland zu einem Zeitpunkt, an dem in England der Mix noch gar nicht gemacht wurde. Warum? Mit der Akribie und Erbsenzählerei, wofür deutsche (und sicherlich auch österreichische) Sammler in aller Welt bemitleidet werden, läßt sich gut Geld verdienen. Auch wenn es nur heiße Luft ist und aus falschen Quellen abgeschrieben wurde.
Wer bis hier meinen langen Sermon durchgestanden hat, der wird verstehen, warum ich - mit Verlaub - vielen Angaben auch hier im Forum eher mißtrauisch begegne. Speziell den Veröffentlichungsdaten. Wenn man mal nachrecherchiert, dann entpuppen sich manche VÖ-Daten mitunter als
- Aufnahmedaten
- Ersterscheinen in Verkaufsprospekten oder
- Eintritt in die Hitparade.
Mal so mal so. Wer kann das nachprüfen? Und wofür ist es wichtig? Mir erscheint ein VÖ-Datum "Frühjahr 1961" allemal vertrauenswürdiger als ein "15.3.1961". Auch wenn ich dann die Krise kriege, wenn ich nicht mit Bestimmtheit sagen kann, in welcher Reihenfolge die fünf deutschen Coverversionen in die Läden kamen.
Damit muss ich dann leben. Auch wenn es schwer fällt.
Es grüßt Euch
der womöglich größte Erbsenzähler unter den Beatles-Sammlern
...der gerne im umfangreichsten, detaillverliebtesten und akribischsten Forum liest und schreibt