Hallo,
auch hier hatten Berendt/Huesmann ihre Meinung:
Billie Holiday ist die lebendige Verkörperung einer Erkenntnis, die erstmals Fats Waller - und nach ihm so viele andere – ausgesprochen haben: dass es im Jazz weniger auf das "Was" als auf das "Wie" ankommt. 1935 nahm sie - um ein Beispiel unter zahllosen zu geben – mit Teddy Wilson einen so billigen, banalen Song wie “What a Little Moonlight Can Do“ auf, und es entstand ein vollwertiges Jazz-Kunstwerk. Billie Holiday hat nur gelegentlich Blues gesungen. Aber ihre Phrasierungsweise und Konzeption hat vielem, was sie gesungen hat, Blues-Atmosphäre gegeben.
Billie Holiday hat mehr als 1000 Schallplattentitel aufgenommen – darunter etwa siebzig mit Teddy Wilson. Mit ihm und Lester Young hat sie in den dreißiger Jahren ihre schönsten Aufnahmen gemacht. Im Geflecht, das zwischen den Vokallinien Billie Holidays und den Tenorsaxophon-Improvisationen Lesters entsteht, wird die Frage, wo Melodie und wo Begleitung liegen, welche Linie instrumental und welche vokal ist, zweitrangig.
Billie Holiday ist die große Sängerin des Understatements. Ihre Stimme hat nichts von der voluminösen Härte und Majestät einer Bessie Smith. Es ist eine schmiegsame, kultivierte, sensible Stimme, und doch sang Billie einen Song, der mehr als alles, was Bessie Smith und die klassischen Bluessängerinnen gesungen haben, zum musikalischen Symbol des Protestes gegen rassische Diskriminierung geworden ist: “Strange Fruit“ (1939). Es war das berühmte Lied über „die seltsame Frucht“, die an den Bäumen hängt: der Körper eines gelynchten Schwarzen. Billie sang das, als konstatiere sie die Tatsache: Ja, so ist es. Jeder Blues von Bessie Smith. handle er auch nur von einer alltäglichen Liebesgeschichte, wurde mit mehr Emphase und Pathos gesungen als dieses emphatischste und leidenschaftlichste musikalische Zeugnis gegen rassische Diskriminierung, das vor Abbey Lincolns Interpretation von Max Roachs “Freedom Now Suite“ 1960 bekannt geworden ist.
Billie Holiday hatte einen geringen Tonumfang, er überschritt kaum zwei Oktaven. Aber ihr Timbre war extrem variabel - sie hatte die Fähigkeit, mit kleinsten Abstufungen von musikalischen Nuancen größte Stimmungs- und Bedeutungsveränderungen zu bewirken.
Keine Sängerin vermochte Bedeutungen und Liedtexte so auf den Kopf zu stellen, zu ironisieren und zu konterkarieren wie Billie Holiday. Sie nahm sich die Freiheit, langsame Songs schnell zu singen und Up-Tempo-Nummern in Balladen zu verwandeln. Lustigen Songs konnte sie eine sanfte Bitterkeit geben, die den zuckersüßen Guss der Tin-Pan-Alley-Fröhlichkeit ins Gegenteil verkehrte. Billie „sang“ keine Songs, sie „interpretierte“ sie nicht. Sie kreierte Songs. Sie vokalisierte jeden Song nicht nur so, als hätte sie ihn selbst geschrieben, sondern als hätte sie ihn gerade an jenem Morgen erst geschrieben.
Billies Gesang besaß die Elastizität von Lester Youngs Tenorsaxophonspiel, aber sie besaß diese Elastizität schon vor ihrer ersten Begegnung mit Lester. Billie war die Erste - nicht nur als Frau und als Sängerin, sondern im ganzen Bereich des Jazz, in deren Musik der Einfluss des Saxophons als spiel- und klangprägendes Instrument des modernen Jazz deutlich wird.
Das zeigt sich in nur scheinbar paradoxer Weise in ihren Aufnahmen schon vor Beginn der eigentlichen Saxophon-Ära, die erst mit den Erfolgen von Lester Young Anfang der vierziger Jahre begann. Der „kühle“ Tenorsaxophonklang wird gleich auf Billie Holidays erster Platte deutlich - “Your Mother's Son-in-Law“, aufgenommen 1933 mit Benny Goodman. Man kann sagen, dass durch Billie Holiday der moderne Jazz im Bereich des Gesangs früher begann als in jedem instrumentalen Bereich.
Er begann auch deshalb mit Billie Holiday, weil sie als Erste – und gewiss unbewusst - erfasst hat, dass nicht nur ihre Stimme, sondern auch das Mikrophon ihr „Instrument“ waren. Billie Holiday ist die erste Vokalistin, die verstanden hat, dass man mit Mikrophon völlig anders zu singen hat als ohne Mikrophon. Billie Holiday humanisierte ihre Stimme, indem sie sie mikrophonisierte. Erst dadurch wurden Sensibilitäten und Subtilitäten des Ausdrucks wichtig, die im bisherigen Gesang unbekannt waren - und auch unnötig, weil man sie ja doch nicht hätte hörbar machen können.
Wenn Billies Mund sich öffnete, war da viel Platz für Wahrhaftigkeit. Die Verletzungen und Verletzlichkeiten der Seele ließ ihre Stimme mit einer fast masochistischen Ehrlichkeit nach außen - vom Begehren und sexueller Lust über Freude und Optimismus bis hin zu Verzweiflung, Trauer und Schmerz. Billie Holidays Mund, eine offene Wunde. Sie trug ihr Herz auf der Zunge. Und wenn sie über die Einsamkeit sang, dann zog sie die Hörer unwiderstehlich mit hinein in ihre Einsamkeit.
Billie Holiday sang nicht einfach nur traurige und lustige Lieder. Das ist ja das, was Sängerinnen in der kommerziellen Musik normalerweise tun: traurige und lustige Lieder singen. Billie Holiday jedoch konnte in ihrem Jazzgesang gegenläufige Emotionen und Empfindungen gleichzeitig existieren lassen, sie übereinander blenden, wie sich widersprechende Folien. Oder wie der Rocksänger Brian Ferry bemerkte: „Ihr Stil singt von Hoffnung, ihre Botschaft ist Verzweiflung.“
Die Lebensgeschichte von Billie Holiday ist oft erzählt - und noch öfter effektvoll verfälscht - worden: vom Hausmädchen in Baltimore über Vergewaltigung und Prostitution zum erfolgreichen Gesangsstar und dann durch Rauschgift den ganzen Weg wieder hinab. 1938 trat sie mit der Artie Shaw Big Band auf, einem weißen Orchester. Monatelang musste sie die Hintereingänge des Personals benutzen, wenn ihre weißen Kollegen durch die Hauptportale gingen. Sie wurde in schmutzige Vorstadthotels geschickt, wenn die übrige Band in den Hotelpalästen, deren Tore für Schwarze verschlossen waren, unterkam. Und oft konnte sie nicht einmal mit ihren weißen Kollegen essen. Sie musste das alles über sich ergehen lassen, nicht nur als Schwarze, sondern auch als einzige Frau des Orchesters. Billie glaubte, sie müsse es durchstehen, um ein Exempel zu statuieren.
Wenn es erst einmal ein schwarzer Künstler geschafft habe, würden es sicher auch andere schaffen. Sie ertrug es, bis sie schließlich zusammenbrach. Einige ihrer Freunde sagen, dass sie dadurch ein Opfer des Rauschgifts geworden sei. Vorher war sie mit einem anderen großen Orchester aufgetreten - mit dem von Count Basie -, und dort erlebte sie genau das Umgekehrte - und das war womöglich noch schlimmer: Obwohl Billie so sehr Afroamerikanerin war wie Basies Musiker, erschien ihre Hautfarbe einigen Gästen zu hell. Sie glaubten - unvorstellbar damals! -, ein weißes Mädchen träte mit einem schwarzen Orchester auf. Eines Nachts in Detroit musste sie schwarze Schminke auflegen.
In den letzten Jahren ihres Lebens - sie starb 1959 unter niederdrückenden Begleitumständen - war ihre Stimme oft nur noch ein Schatten der alten großen Zeit. Sie sang ohne die Elastizität und den Zauber ihrer früheren Aufnahmen. Die Stimme klang alt, eckig und glanzlos. Und doch besaß alles, was sie sang, eine magnetische Ausstrahlung. Es ist eine ungewöhnliche Entdeckung, zu erleben, wie viel von einem großen Künstler bleiben kann, wenn Stimme, Technik und Biegsamkeit verloren sind und gleichwohl die geistige Gestaltungs- und Ausdruckskraft bewahrt bleiben. Es ist fast gespenstisch, das auf den Schallplatten zu hören, die Billie Holiday in den fünfziger Jahren gemacht hat: eine Sängerin, die aller materiellen und technischen Attribute ihres Berufes entbunden ist und die trotzdem eine große Künstlerin bleibt.
„Jedes Mal, wenn ich singe“, hat die Rocksängerin Marianne Faithful gesagt, „bete ich zu Billie Holiday, um mir zu helfen: the singers' saint - die Schutzheilige aller Sängerinnen.“ Billie Holiday steht im Zentrum des Jazzgesangs. Nach ihr kam eine Fülle von Sängerinnen, von denen zunächst zu sagen ist, dass sie Billie Holidays Errungenschaften auf die stilistische Umgebung anwandten und weiter anwenden, der sie jeweils angehören.